06.09.2010

Ein Internettag

An manchen Tagen ist es für mich ein Wunder, mich einfach im Web zu verlieren. Diese Tage sind grundsätzlich nicht geplant, sie passieren sowas wie zufällig. Meistens beginnt es mit völlig uninteressanten Artikeln, die ich lese, in denen ich dann etwas lese, was ich nicht verstehe, was komisch klingt. Und dann wird nachgeforscht. 

Heute habe ich mich einmal mehr mit Aids-Dissidenten beschäftigt. Ein wahrhaft spannendes Thema! Schon die bloße Tatsache, dass es wohl in der Geschichte der Medizin nie Krankheiten gab, zu denen man sich "dissident" verhalten konnte, ist für mich erstaunlich. Dissidenz ist ein politische Haltung, die sich mit allerlei Dingen vermischen kann und das auch immer tut. Aber gab es denn schon einmal Schnupfen-Dissidenten? Gab es Pest-Dissidenten (in entsprechenden Begriffen der Zeit)? Gibt es Krebs-Dissidenten? Gibt H5N1-Dissidenten? Habe ich noch nie gehört. Die Aids-Dissidenten aber sind eine wahrhaft merkwürdige Gruppe von Menschen, nicht weil ich sie für wahnsinnig halten würde oder ähnliches, sondern weil sie wirklich Teil eines sehr bemerkenswerten, allerdings kaum wahrgenommenen Diskurses sind. Wikipedia bietet hierzu einen fast witzigen Einstieg: hier nennt man diese Gruppe Aids-Leugner . Man muss sich, finde ich, bei Wikipedia immer die Diskussionen anschauen; dort ließt man weitaus besser, als in dem bloßen Artikel. Mithin sind die Artikel für mich nur noch Beiwerk zur Diskussion. Richtig interessant, aber ein Arsch voll Arbeit, ist die jeweilige History eines Artikels. Was mit welcher Begründung gelöscht wurde: der Gerichtshof und das Beiblatt eines öffentlichen Diskurses ist das für mich. Der Artikel der Aids-Leugner hat sowohl in der deutschen wie auch in der englischen Version in der Diskussion schon öfter zu dem "Titel" geführt, der polemischste und schlechteste Artikel der gesamten jeweiligen Wikipedia zu sein. Man kann in den Diskussionen dieser Artikel eines der größten Probleme der Wikipedia sehen, das Problem der (politischen) Neutralität. Und noch ein weiteres, sich sehr weit ausdifferenzierendes Problem (wer suchet der findet), nämlich das Problem der Verwendung wissenschaflticher Quellen als Evidenzen. Ein Wahnsinnsproblem wird das bei all jenen Themen, die auf je ihre Weise irgendwie die Wissenschaft als Institution selbst in Frage stellen. Damit kann die Wikipedia so wenig umgehen wie mit der Tatsache, dass es unmöglich ist im Internet nicht politisch zu sein. So wie es für manche Menschen eine politische Haltung ist, kein Handy zu benutzen, so ist es für andere eine politische Haltung, kein Internet zu benutzen. Für wieder andere ist das Arbeiten im Internet selbst eine ganze politische Philosophie. Und auch eine Enzyklopädie ist nicht unpolitisches, schließlich, das sagte schon Diderot, soll sie alles wissenschafltiche Wissen einer Zeit, selbstverständlich zu Zwecken der "Aufklärung" versammeln. Eine Enzyklopädie ist ein Werkzeug und kein Werkzeug wird wahllos geschaffen, sondern immer zu einem mindestens eindeutig bestimmten Zweck. Man könnte es einfach sagen, dass eine Enzyklopädie den Zweck des Vormarsches des Wissens erfüllen soll, des wissenschaftlichen Wissens wohl gemerkt und eben das ist die politische Implikation der ganzen Sache. Vielleicht ist gerade das das Problem der Wikipedia, sich so vehement "frei" zu nennen und immer wieder festzustellen, wie schwer das ist; vielleicht stellen sie auch irgendwann fest, dass man nicht einfach frei ist, sondern das man Freiheit erst herstellen muss, das gilt sowohl für große Zusammenhänge wie für den Einzelnen oder Gruppen selbst. Kein Mensch lädt dich dazu ein, frei zu sein; bestenfalls lädt man dich ein, an deiner Freiheit zu arbeiten und auch dann ist eben nichts geschenkt. Der Autor Ulitz schreibt dazu durchaus nicht schlechte Dinge. Aber ich nehme an, dass auch für ihn der Unterschied zwischen Wissen und wissenschafltichem Wissen nur in einer qualitativen Frage liegt, nicht in einer des Zustandes. Für mich ist wissenschaftliches Wissen ein Wissen anderen Zustands, deswegen aber nicht besserer oder schlechterer Qualität. Man kann ein ganzes Leben damit verbringen, kein wissenschaftliches Wissen zu benutzen, und warum auch nicht? Wikipedia allerdings hat dieses Wissen als das nonplusultra postuliert und das wird ihr gerade zum Verhängnis. Denn die Wissenschaft ist selbst nicht frei von Problemen und im Moment scheint sie wenig daran zu arbeiten, es zu werden. Auf diesem Blog hier kann man manches darüber lesen. Man kann aber auch zb. von Franco Basaglia das Buch "Die negierte Institution" lesen und sich danach fragen, was man mit den Erkenntnissen, die selbst wissenschafltich sind, anfangen soll und vor allem (das Buch ist fast 40 Jahre alt) was man damit angefangen hat - und was alles nicht. Es ist nämlich dieses Problem der Wissenschaften, das Francois Chatêlet in dem Buch "Geschichte der Philosophie Bd. VII: Die Philosophie der Sozialwissenschaften (1860 bis Heute [=1973])" folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: "Das epistemologische und politische Problem ist, was man mit diesen Arbeiten anfangen soll, die aus der Institution hervorgegangen sind, und die sie, ob sie sich nun in sie fügen oder über sie hinausgehen, in Frage stellen." (S. 229). Was macht Wikipedia mit diesem Problem? Hier kann nochmal auf den Autor Ulitz verwiesen werden. Aber auch Aritkel wie dieser hier  versuchen das Problem irgendwie zu erfassen. Bisher scheint es so, als ob vor allem solche Konflikte, die notwendig in Kritik enden, damit gelöst werden, dass die Kritiker schlicht ausgebotet werden bis sie entweder selbst keine Lust mehr haben oder aber, bis man sie sperrt. Man kann aber festhalten, dass dieses Problem nur bedingt von Wikipedia selbst hervorgerufen worden ist, denn wie man sieht, gab es dasselbe schon 1973, nur liegt es in der Wikipedia jetzt anders vor. Der Artikel der "Aids-Leugner" zeigt das brillant: hier wird gefordert, man möge wissenschafltiche Quellen vorlegen. Und freilich gelten hier dann nur medizinische bzw. molekularbiologische oder biomedizinische Beweise. Nur wer sollte die erbringen? Und selbst wenn, ein weiteres selbstgebautes Fallbeil für Wikipedia-Autoren, man dann welche vorlegen könnte (es gibt sie), so würden die Autoren sie einfach als unwissenschafltich oder unverlässlich disqualifizieren und dann bessere fordern; die würde man vorlegen, sie würden disqualifiziert und so weiter. Das ist schon mehr als ein wissenschaftliches Dogma, es ist eine ganze Arbeitsmethode, die, und Wikipedia offenbart das unfreiwillig, aber nicht nur in der Wissenschaft ihre Anwendung findet. "Werft die Hexen auf den Haufen" will man fast sagen, aber das Problem ist freilich so einfach nicht gestrickt. Es ist ein enormes Problem, wenn man sich in Gedanken behält, dass das Internet bezogen auf relativ einfache Verfügbarkeit vielfältigen Wissens eine Wahnsinnsmaschine ist; allerdings eine ohne Vergangenheit. Jetzt, so könnte ich mir vorstellen, bauen wir alle die unbearbeiteten, am Wegesrand liegengelassenen Probleme der letzten 200 Jahre mit in diese neue Erfindung ein nur viel schneller. Wir machen nicht dieselben Probleme nochmal und sie tauchen auch nicht als Farce wieder auf; wir schaffen ganz neue Probleme durch die Verwendung all der Techniken, die bereits in Frage gestellt wurden sind, deren in Fragestellung aber unbeachtet blieb (das Urheberrecht ist hier ein gutes Beispiel). Und wir bauen uns diese Probleme, von denen manche Teile von manchen Menschen schon gesprengt wurden, jetzt anders zusammen und machen vielleicht den etwas gefährlichen Fehler, uns gleich auf diese Wahnsinnsmaschine zu verlassen, von der wir doch noch so wenig Ahnung haben (für das Web 2.0 und das schnelle Internet hat die Welt nicht mehr als 15 Jahre Erfahrung vorzuweisen; für das Problem der Ausgrenzung von Herätikern liegen ganze Epochen vor; für das Problem der einschließenden Ausschließung von Anomalen ("Un-ebenen", "Nicht-rechtwinkligen") liegen mindestens 150 Jahre Erfahrungen vor). Es steht außer Frage, dass die Bewältigungen, die Freiheitseroberungen hierbei nicht nur auf Wikipedia stattfinden werden, aber auf Wikipedia, insebsondere in den Diskussionen und der History, kann man schon fast als ein Forscher im Ethischen unterwegs sein, wenn man das will. So zb ein so tragischer wie komischer Gestus ist es, dass "Kritiker" sehr lange Ausformulierungen machen in denen man, wenn man ein wenig mehr liest, das Bemühen um eine gewisse Zurückhaltung erkennen kann: die Zurückhaltung, nicht beleidigend zu werden, nicht die ganze Raison der "Standard-Autoren" in Frage zu stellen, sich sogar um Stil im Schreiben zu bemühen, während die Antworten der Standard-Autoren selten mehr als 5zeilig sind und 2 bis 3 Verweise darauf enthalten, welche Wikipediaregel hier warum angewandt wird und warum der "Kritiker" deswegen verloren hat. Mithin hat man den Eindruck, man wäre bei einem Amt, dass einem, je nach dem Punkt, der den eigenen Unmut (eigen= Kritiker) hervorgerufen hat, passende kleine Zettel gegeben werden, auf denen steht, weswegen Kritik nicht erlaubt ist. Es ist wirklich ein phantastisches Regelproblem, dass allerdings nicht nur auf Wikipedia besteht. Das Bemühen, mit diesen Regelproblemen umzugehen, so denke ich, verstehen aber viele etwas sehr einfach pessimistisch. Zwar wird die Wikipedia über kurz oder lang wirklich zum Erliegen kommen, wenn sie nicht anfängt, über ihre gesamte Konstitution nachzudenken (nicht nur über ihre Regeln) aber bis dahin haben all jene, die ein gewisses Niveau an Kritik darin erhalten möchten doch noch einen riesigen Arbeitsplatz, um sich selbst zu üben und an sich selbst zu arbeiten. Die "Standard-Autoren" haben hier zwar weniger Bonus, denke ich, denn ihre Aufgabe beschränkt sich doch eher darauf, den Standard einzuhalten und zwar mit Regeln, die sie sich nicht selbst gemacht haben; die "Kritiker" müssen sich, je länger sie ihre Kritiken machen möchten, selbst Regeln geben, wie sie ihren Stil und ihre Aussage mit ihrer Moral in Einklang bringen können. Dasselbe, denke ich, kann man auch von diesem bereits erwähnten Blog sagen (vor allem von dessen Autor), der sich wahrhaftig mal eine Übung in Geduld an die eigene Existenz geheftet hat (und das wusste er vorher sicher nicht!). 

Ich empfehle übrigens jedem, sich mal 3 bis 4 Stunden Zeit zu nehmen und sich die englische Version des Aids-Dissidenten Artikels und dessen Diskussion zu Gemüte zu führen. Da stehen wirklich manch lustige Sätze. War ich bis heute selbst manchmal etwas erbost über die Weise, wie man auf Wikipedia, aber auch sonst im Web, über manchen Themen die absolute GateKeeper-Mentalität ausbreitet, musste ich mir heute denken, dass ich einfach, wenn ich mal einen schlechten Tag habe, mir diese Diskussionen durchlesen werde; ich kann dann herzhaft lachen über die wirklich gewaltigen Absurditäten, die ein so unbeachtetes Thema nach sich ziehen kann, was für Polemiken man auf einem so unbemerkten Thema ausschütten kann, wie man darauf reagieren kann. Es macht mir durchaus Mut, aber diesen Mut mit Lachen. 

Allen Kritikern, die sich, so wie ich, selbst nicht als solche sehen aber so missverstanden werden und auch allen Kritikern, die sich so verstehen wollen und auch so genannt werden wollen, dieses Lied